"Wenn die staade Zeit vorbei ist, wirds endlich wieder ruhiger." - Karl Valentin
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(c) Angelika Braun 2016 |
Mit diesem treffendem Zitat und einer (ganz gewöhnlichen) Weihnachtsgeschichte, die ich vor Jahren schon geschrieben habe, möchte ich mich in die Winterpause verabschieden. Ich wünsche euch allen schöne Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr! Mitte Januar melde ich mich wieder zurück :)
Eine (ganz gewöhnliche) Weihnachtsgeschichte
Einmal im Jahr gab es eine besondere
Zeit im Haus, die Mortimer stets aufs Neue verwunderte. Mit abnehmenden
Temperaturen kündigte sich dieses familiäre Großereignis langsam an und die
erste Aufregung entstand für gewöhnlich, wenn statt Regen dicke weiße Flocken
vom Himmel fielen.
„Mama, komm schnell, es schneit!“ Nina
drückte sich dann an der frisch geputzten Scheibe der Terrassentür die Nase
platt und Mortimer stand etwas ratlos daneben. Gut, zugegeben, die dichte
herabrieselnde Flut ganz in Weiß war schon etwas Faszinierendes.
„Mama! Komm endlich!“ Nina hüpfte
aufgeregt. „Ich will raus!“
„Glei-heich“, kam es als völlig
ungenügende Antwort aus der Küche.
„Nein, sofort!“
Enttäuscht sah Nina Mortimer an, der den
Kopf schief legte und kurz bellte.
„Gell, du willst auch raus, oder?“
Ja, warum nicht? Mit Nina ging Mortimer
gern raus. Mit ihr konnte man wunderbar im Garten spielen und herumtollen. Bei
Enno war das nicht mehr so. Seit ihm ein dünner Flaum im Gesicht zu wachsen
begann, was er stets vehement als Bart titulierte, war er anders geworden.
„MAMA!“ Nina stampfte zornig mit dem Fuß
auf, wollte aber den Platz an der Terrassentür und den Blick auf den Garten
nicht preisgeben. Der bereits vorherrschende Frost machte es möglich, dass sich
eine erste weiße Schicht auf der Wiese bildete.
„Man, Nini, schrei nicht so rum.“ Das
war Enno, der gelangweilt ins Wohnzimmer schlurfte, die offen stehende Zimmertür
demonstrativ ignorierte und sich dazu herabließ, die beiden mit seiner
Anwesenheit zu beehren. Mortimer bellte eine knappe Begrüßung. Nina wies mit
aufgerissenen Augen auf den Beagle. „Siehst du, er will auch raus!“
Enno verdrehte die Augen. „Regt euch ab,
es ist nur Schnee, verdammt.“ Damit hatte Enno genug und schlurfte schon wieder
davon. Mortimer vermutete, dass er in sein Zimmer zurückkehren und wieder
einmal derart laut Musik hören würde, dass es ihm, Mortimer, nicht mehr möglich
war, in dem Zimmer zu verweilen. Schade eigentlich, denn er war gern in Ennos
Zimmer gewesen. Aber er hatte ja noch Nina. Und die wollte immer noch raus,
Mortimer konnte ihre Aufregung spüren. Also gab er sich einen Ruck und trabte
zur Küche. Schon auf dem Weg dorthin nahm er eine Dunstwolke wahr, die sich von
dort zu verbreiten schien. Es war ihm unerklärlich, wie die Menschen die Quelle
dieser teils abstrusen Gerüche auch noch essen konnten, aber manchmal roch es
schon sehr verführerisch, auch für ihn. Für gewöhnlich bekam er nichts vom
Tisch, aber er hatte einen unschlagbaren Trick entwickelt, den er vorzugsweise
bei Ninas Mama anwandte. Er kündigte sich mit einem etwas zu lauten Bellen an,
um sicher zu gehen, auch die Aufmerksamkeit zu haben. Dann, als Ninas Mutter
sich gerade ungehalten ob der Störung umdrehte, setzte er sich, blickte sie mit
großen Augen und angelegten Ohren an und stieß sein herzzerreißendstes Winseln
aus. Entnervt wischte sich Ninas Mutter ihre Hände trocken. „Ist ja gut, ihr
Quälgeister! Ich komme ja.“
Das war der Beginn einer Zeit, in der
sich das Haus mit den Wochen veränderte. Mortimer beobachtete gern von seinem
Hundekorb aus neben der Couch das Geschehen. Nicht nur die Jahreszeiten
wiederholten sich, sondern auch die Wortwechsel zwischen seinen Herrchen.
„Schatz, wir sollten dieses Jahr mal
neue Weihnachtsdeko kaufen.“ Noch war der Tonfall von Frauchen wohlwollend.
„Wir haben im Keller zwei ganze Kisten
voll“, kam die Antwort von Mortimers Herrchen auf der Couch aus der Deckung
einer weit geöffneten Zeitung.
„Ich will aber mal was Neues!“
„Das kostet jetzt ein Vermögen. Wir
schauen, ob wir später etwas im Schlussverkauf finden.“ Raschelnd wurde die
Zeitung umgeblättert, ohne freilich die Mauer aus Papier aufzugeben.
„Das hast du letztes Jahr auch schon
gesagt und wir haben dann nichts gekauft.“
„Eben, weil wir nichts brauchen.“
Mortimer meinte ein Grinsen in der
Stimme zu hören. Frauchen wohl auch, denn sie baute sich breitbeinig vor dem
Schutzwall der Zeitung auf.
„Peter, so geht das nicht. Du kannst mir
das nicht immer verbieten.“
Mortimer horchte auf. Wenn die Namen
genannt wurden, wurde es meistens ernst. Ein kurzer Moment der Stille legte
sich über die angespannte Situation, ehe Frauchen der Kragen platzte. „Ich
kaufe einfach was! Und neue Kugeln für den Baum will ich auch!“
Mit lautem Rascheln fiel die
Zeitungsmauer in sich zusammen und offenbarte einen genervten Papierburgbesitzer.
„Gabi, wir haben so viele Kugeln im Keller, dass wir drei Bäume schmücken
könnten.“
Gabi neigte sich trotzig ein Stück nach
vorn. „Und wenn wir die ganze Nachbarschaft versorgen könnten – ich will Neue!“
Damit war das Thema vom Tisch und Gabi schritt als Sieger vom Platz, während
Peter seine nicht mehr ganz so glatte Zeitungsmauer ungehalten wieder aufbaute
und mit energischem Umblättern seinen Missmut ausdrückte.
Je mehr die Schneeberge auf den Straßen,
Gehsteigen und Bäumen wuchsen, desto mehr wuchs auch der Trubel. Ein wichtiger
Termin im Hause Ulman war das viel und oft angekündigte Plätzchenbacken.
„Mama, wann backen wir Plätzchen?“,
pflegte Nina täglich zu fragen, bis Frauchen dann endlich mit „Nächsten
Samstag“ die erlösenden Worte aussprach. An jenem besagten Tag herrschte schon
gleich nach dem Frühstück geschäftiges Treiben in der Küche.
„Enno, willst du nicht mithelfen?“, fragte
Gabi vorsichtig ihrem Sohn. Der saß ungerührt mit tief ins Gesicht hängenden
Haaren noch am Frühstückstisch in der Küche und hielt seinen Blick konsequent
auf sein Smartphone gerichtet.
„Enno?“ Keine Reaktion. Mortimer vernahm
deutlich die Musik aus kleinen Knöpfen, die sich Enno seit längerer Zeit immer
öfter in die Ohren steckte.
„Enno!“ Gabi wedelte an seinen
herabhängenden Haaren. Das hasste er …
Unwirsch strich er sie sich aus dem
Gesicht und riss einen Ohrstöpsel heraus. Leises, rhythmisches Wummern war zu
hören. „Was ist denn?!“, fauchte er seine Mutter an.
„Ob du mithelfen willst, Plätzchen zu
backen.“ Der resignierende Tonfall läutete schon die Niederlage ein.
„Nope“, kam es prompt.
„Ach schade, früher hast du das doch
gerne gemacht. Du darfst auch ausstechen.“
„Ich will ausstechen“, brüllte Nina
entrüstet dazwischen.
Ennos Blick gelangweilter Blick sprach
Bände. „Mama, ich bin dreizehn! Stech deine scheiß Plätzchen selber aus.“
Trotz aller Erduldungstoleranz sah sich
Peter nun gezwungen, einzugreifen. „Man, was soll denn immer dieser Ton? Ich
bin dein Vater, ich will nicht, dass du so mit uns redest!“
Enno verdrehte die Augen. „Du
darthvaderst schon wieder, Dad.“
Damit verschwand der Musikknopf wieder
im Ohr und Gabis energische Maßregelung wurde für Enno zu einer Szene aus einem
Stummfilm.
„Willst du ihm das immer durchgehen
lassen, Peter? Dein Sohn ist rotzfrech geworden.“
Herrchen kippte plötzlich erstaunlich
schnell seinen zuvor als zu heiß bezichtigten Kaffee hinunter.
„Wie sagte Karl Valentin so schön: Wenn
die staade Zeit vorbei ist, wird’s endlich wieder ruhiger … Komm, Morti, wir
drehen ‘ne Runde.“
Entrüstet stemmte Gabi ihre Hände in die
Hüften. „Und jetzt lässt du mich hier einfach allein?“
Ja, das tat er. Ehe Mortimer es sich
versah, war die Leine am Halsband befestigt und noch während Peter sich die Jacke
anzog, musste das Haus verlassen werden. Der harsche Schnee auf dem geräumten
Gehweg knirschte bei jedem Schritt. „Keine Sorge, die beruhigt sich schon
wieder.“ Mortimer sah kurz hoch und kläffte, was so viel bedeutete: Ich bin nur
der Hund, du jedoch solltest dir
schon mal was als Wiedergutmachung überlegen.
Am nächsten Tag saß man im Wohnzimmer um
einen Zweigkranz zusammen, auf dem vier Kerzen steckten und heute die dritte
Kerze angezündet wurde. Auf mehreren Tellern lagen die fertigen Backwerke von Gabi
und Nina und während Enno seine Anerkennung des Beisammenseins damit
ausdrückte, sich nicht unablässig mit Musik zu beschallen, versäumte es Peter
nicht, jede Sorte ausführlich und mit Engelszungen zu loben.
Dann kam die Sache mit dem Baum und den
Geschenken. Eines Abends kam Peter von der Arbeit und Mortimer merkte bei der
alltäglichen Begrüßung sofort den intensiven Tannennadelgeruch. Das bedeutete,
dass jetzt ein Tannenbaum passender Größe zusammengeschnürt im hinteren Eck der
Garage stand. Das verstand Mortimer überhaupt nicht. Draußen im Wald standen
hunderte davon herum, aber diesen einen durfte Nina nicht sehen?
„Hast du den Baum besorgt?“, fragte Gabi,
nachdem sie Nina eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte und ins Wohnzimmer
kam.
„Klar.“
„So klar ist das nicht. Letztes Jahr
warst du so spät dran, dass wir uns mit einer Fichte begnügen mussten.“
„Die war doch in Ordnung.“
„Sie war potthässlich.“
„Es war immerhin ein Baum.“
„Peter!“ Mortimer öffnete für einen
prüfenden Blick ein Auge. In diesen Tagen wurden immer recht früh Namen
genannt, sonst dauerte es meist länger, ehe dieser kritische Punkt erreicht
wurde.
Peter hob beschwichtigend die Hände.
„Keine Panik. Es ist eine wundervolle, sündhaft teure Nordmann-Tanne.“
Er sah sich suchend um, entdeckte die
Fernbedienung des Fernsehers neben Selbigem liegen und stapfte missmutig los. „Wer
legt denn das Ding immer da hin? Das ist eine Fernbedienung, für die Ferne.
Hast du eigentlich an das Geschenk für Tante Renate gedacht?“
Gabi fuhr sich nervös durch ihr
brünettes Haar. „Welches Geschenk?“
„Na, das Geschenk! Das Geschenk zu ihrem
runden Geburtstag.“
„Sie hat Geburtstag?“ Gabis Wangen waren
leicht gerötet.
Peter nickte übertrieben. „Am selben
Datum wie letztes Jahr, stell dir vor.“
„Müssen wir ihr überhaupt was schenken?“
Frauchen ging in die Offensive. „Ich meine, immer diese Schenkerei zu
Weihnachten und auch zum Geburtstag.“
Herrchen ließ sich mit einem Seufzen auf
die Couch fallen. „Sie hat nun mal kurz nach Weihnachten Geburtstag, was kann
ich denn dafür?“
„Denk du mal lieber an die CD für deinen
Sohn, die er sich so sehr wünscht.“
„Ja, ja, ich weiß Bescheid, ich besorg
die schon noch.“
Gabi schnitt eine Grimasse. „Du wirst
wahrscheinlich am 24. in wilder Panik durch die Stadt rennen …“
„Ja, stimmt, ich sollte gleich los,
sonst gibt es nur noch Fichten-CDs.“
Einen Moment lang stand Gabi da wie vom
Donner gerührt und stieß einen Laut der Verzweiflung aus. Peter lehnte sich mit
einem zufriedenen Grinsen wieder zurück. „Keine Sorge, ich besorg ihm eine
schöne Nordmann-CD. Bei Amazon.“
Gabi wollte eigentlich wütend sein,
musste aber trotzdem lachen. „Du bist so blöd manchmal, weißt du das?“
Herrchen nickte nur mit außerordentlich
zufriedenem Gesichtsausdruck und schaltete den Fernseher ein.
All das mündete in den lang ersehnten,
hart erarbeiteten Weihnachtsabend. Der Baum stand am üblichen Platz und hatte neue
Kugeln bekommen, die restliche Dekoration war dieselbe geblieben, Tante Renates
Geschenk lag bereit zum Einsatz im Schrank und Mortimer hatte genau beobachtet,
wie Peter mit einem Augenzwinkern zu Mortimer unter anderem ein flaches,
viereckiges Päckchen unter dem Baum platzierte. Die Nordmann-CD? Mortimer erschnupperte,
dass es kein heimisches Geschenkpapier war, Herrchen hatte es also fremdeinpacken
lassen. So, so.
Nina war furchtbar aufgeregt und Enno kommentierte
die Dekorationskünste seiner Mutter mit „läuft bei dir“ und das Weihnachtsessen
als „echt fly“ – kurzum, er war zufrieden. Nachdem die Mägen gefüllt waren,
versammelte sich die Familie im Wohnzimmer, Kerzen wurden entzündet und Nina
stand schon ganz hibbelig vor der Decke, unter der sich die Geschenke
verbargen. „Erst wird gesungen“, sagte Gabi wie jedes Jahr und mit Begeisterung
stimmte sie ‚Stille Nacht‘ an, der Rest folgte mit leichter Verzögerung und
etwas weniger Enthusiasmus. Mortimer schwieg, weil es letztes Jahr wegen ihm
mächtig Ärger gegeben hatte. Nicht wegen seinem Geheul, mit dem er sich am
Gesang beteiligte, sondern wegen Enno, der deswegen einen minutenlangen
Lachflash bekommen hatte. Dann endlich zog Peter die Decke weg, mit voller
Absicht so langsam, bis es Nina nicht mehr aushielt, und sie fortriss. Geschenke
wurden hochgehoben, Namen verlesen und dann an denjenigen überreicht. Im
Hintergrund lief dieselbe Weihnachts-CD zum gefühlten hundertsten Mal, aber das
störte keinen. Es gehörte einfach dazu.
An diesem Abend, am Weihnachtsabend, saß
Familie Ulman wie unzählige andere Familien beisammen, jeder freute sich über erhaltene
Geschenke, freute sich darüber, wie sich die anderen freuten und jeder, ob
bewusst oder unbewusst, freute sich vor allem über eines: das Beisammensein.
Fröhliche Weihnachten!
(c) Kilian Braun 2016
(c) Kilian Braun 2016